Stretch Target – das Amphetamin des Big Business
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Stretch Target – das Amphetamin des Big Business

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Heute möchte ich einen kleinen Ausflug Richtung Managementtechniken wagen. Ja, ist nicht das von mir typischerweise beackerte Feld aber das Leben braucht Abwechslung. Damit wir alle vom Gleichen sprechen, beginnen wir mit etwas Literatur zur Begriffsdefinition und Einordnung. Goal und target verwende ich übrigens synonym, mir ist kein Bedeutungsunterschied untergekommen.

Schon der Versuch den Terminus ins Deutsche zu übersetzen, bringt spannende Erkenntnisse. Das wirtschaftslexikon.gabler.de sagt z.B. “ausgedehnte und überhöhte Zielvorgabe”. Bei www.linguee.de tauchen auch ähnliche Passagen auf – “anspruchsvolles Ziel” oder “Stretch-Ziel” (das soll eine Übersetzung sein?) – aber es bringt auch eine neue Perspektive: “Etappenziel”. Man kann das Wort stretch sowohl als Verb interpretieren (strecken, ausdehnen, ziehen) oder als Substantiv (Strecke, Ausdehnung, Teilstück). Nur ist ein Etappenziel nicht notwendigerweise herausfordernd oder gar überhöht. Da springt das controller-institut.at ein und bringt Klärung:

Stretch Goals sind ein Begriff, der 1999 von Jack Welch, CEO von General Electric, geprägt wurde. Er verwendete ihn für Ziele, die aus Träumen abgeleitet wurden und so anspruchsvoll waren, dass sich niemand vorstellen konnte, wie sie zu erreichen wären.

https://insights.controller-institut.at/was-sind-stretch-goals/

Gut, das mit dem Etappenziel ist also aus der Welt. Bei stretch target geht es also darum sich nach der Decke zu strecken und zwar ganz gewaltig. Sozusagen ein “Klotzen statt Kleckern” nur nicht auf der Implementierungsseite sondern bei den Zielen bzw. Vorgaben. Damit wir uns etwas besser in die Welt eines Stretchtragetgebers rein denken können ist z.B. McKinsey’s Suche nach einem besseren Stretch Target ganz gut.

McKinsey hat offenbar viel für Management by KPI übrig. Der Weg zum Erfolg kann doch so einfach sein: Definiere die richtigen KPIs und setze stretch targets darauf – der Erfolg kommt dann quasi von selbst. Aber gleiten wir nicht ins KPI-bashing ab sondern bleiben wir bei den Dehnungszielen. Ein stretch goal soll also das Beste aus einer Person oder Organisation herausholen und zwar indem man mehr fordert als im derzeitigen modus operandi normal möglich erscheint. Was ist denn eigentlich diese “normal möglich”-Basis? Bevor wir mit dem Dehnen beginnen sollten wir ja mal feststellen, wie lange das Gummiband ist, wenn man nicht daran zieht. Einfach nur in die Vergangenheit schauen und annehmen, dass es in Zukunft genau so weiterlaufen würde, ist keine gute Idee, da sind sich alle einig. Die Welt um uns herum ändert sich dauernd und das darf man nicht wegignorieren versuchen. Wir brauchen also einen Plan. Der darf (und soll) natürlich auf Erfahrung und Daten aus der Vergangenheit aufbauen. Ein guter Plan ist aber mehr als nur die Inflation dazu zu multiplizieren. Ein guter Plan berücksichtigt, wie sich die Umgebung wahrscheinlich verändern wird, wie man sich selbst verändern will und wieviel Risiko man bereit ist zu tragen um nur ein paar Komponenten zu erwähnen. Heraus kommt ein Modell für die Zukunft, so positiv wie es unter realistischen Annahmen sein kann. Eben ein guter Plan.

Jetzt kommt der große Auftritt der stretch targets. Egal, was ihr Plan sagt, die Management-Hierarchie über ihnen (gibt es immer, zumindest für 99,9999% der Erdbevölkerung) weiß, dass es besser geht. Sie Planen 3% Wachstum? Es gehen auch 10. Sie planen 180 000€ Investvolumen? Es geht auch mit 120 000. Sie wollen mit 0,8% Ausschuss in der Fertigung durchkommen? Ein six-sigma Blackbelt erklärt ihnen, dass es auch mit 0% geht, wenn sie es richtig machen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Wo kommt diese Diskrepanz her? Sowohl die Stretchtragetgeber als auch die Stretchtragetempfänger versuchen doch nur das Optimum zu erreichen…

  1. Der Planende war nicht ganz so clever wie er oder sie gedacht hat. Mit einer Reparaturlinie könnte man den Ausschuss vielleicht wirklich auf praktisch null reduzieren. Die neuen Server kann man auch in Teilpaketen kaufen und einen Teil in die Cloud auslagern. Und das +3% Wachstumsziel hat ignoriert, dass seit COVID19 der last-mile Internet Traffic zu Privatanschlüssen um den Faktor 2 gestiegen ist.
  2. Sch2 nicht angewendet. Schneller Schaufeln. Wenn ich im Frühjahr den Komposthaufen abtrage und auf den Gemüsebeeten verteile, dauert das etwa einen Tag. Ich könnte den Kompost einfach schneller in die Karre schaufeln und nicht gemütlich zum Beet gehen sondern im Laufschritt dorthin joggen. Hinge mein Leben davon ab, könnte ich die Arbeit auch in einem halben Tag erledigen. 100% Produktivitätssteigerung, die ich mir da entgehen lasse. (Zumindest formal, da ich nur einen Komposthaufen besitze, den ich abtragen kann. Außerdem würde ich den ganzen Tag im Turbomodus nicht durchhalten. Das sind aber alles Details, die den KPI KKpH – Kilogramms Kompost per Hour – nicht tangieren.)
  3. Der Planende hat nicht das optimiert, was der Vorgesetzte (oder der Vorgesetzte des Vorgesetzten [oder der…]) optimiert haben möchte. Ein Fertigungsleiter will z.B. keine field returns und liefert nur 101%ig einwandfreie Ware aus. Das Topmanagement legt aber die Priorität auf reduction of waste da Feldausfälle laut Statistik selten zu returns sprich Reklamationen werden.
  4. Der Stretchtargetgeber versteht die dem Geschäft zugrundeliegenden Mechanismen nicht und verlangt wirklich Unmögliches. Strapazieren wir obige Gummibandanalogie nochmals: Die meisten Gummibänder können auf das Doppelte ihrer entspannten Länge gedehnt werden ohne zu reißen. Wechselt ein Manager aus der Gummibandbranche in die Wollknäulbranche und gibt der Schurwollspinnerei das neue 100% stretch goal – naja.

Ich behaupte ganz subjektiv, persönlich und ohne Angabe von Quellen, stretch targets werden meistens ausgeteilt um Option 1 oder Option 3 in obiger Liste zu adressieren. Manchmal wird vielleicht Option 2 als sinnvoller Nebeneffekt gesehen. Option 4 kommt dem Stretchtargeterfinder naturgemäß nicht in den Sinn. Wenn wir die craniale Inkompetenz (Option 4) mal kategorisch ausschließen – ist das Ergebnis dann nicht durchwegs erfreulich? Über den Tellerrand hinaus denken, der Firmenstrategie und Vision entsprechend handeln und vielleicht ein bisserl mehr anpacken? Klingt doch plausibel genug. Also warum der ganze Aufstand?

Starten wir mit einer Binsenweisheit: Menschen machen Fehler. Das gilt für den CxO genau gleich wie für den einfachen Teamleiter. In beiden Gruppen gibt es Bessere und solche, die besser einen anderen Berufsweg eingeschlagen hätten. Wenn wir die obige Liste nochmals in Bezug auf “Fehler machen” bewerten, fällt eines auf: Option 1 und Option 4 sind eng verwandt – bei Option 1 macht der “Geführte” einen Fehler, indem er / sie einen stumpfen Plan abgibt, bei Option 4 die Führungskraft indem sie Unmögliches verlangt. Das Traurige ist, in beiden Fällen wird das stretch target wenig am kurzfristigen Ergebnis ändern. CxOs werden nicht gefeuert, weil die Organisation ihren “ambitionierten Zielen” in den ersten Jahren nicht folgt. Teamleiter werden vielleicht ersetzt aber das eine Jahr, das sie in den Sand gesetzt haben, ist und bleibt verloren. Man kann jetzt einwenden, dass das strech target ja gerade dazu da ist, einen laschen Manager anzuspornen kreativer zu werden. Hm. Sie könnten auch einem durchschnittlichen Maturanten (Abituranten) auftragen, die spezielle Relativitätstheorie zu herzuleiten. Vom mathematischen Handwerkszeug her ist alles bekannt. Trotzdem wird die reine Anweisung in den wenigsten Fällen inspirierend wirken und ein brauchbares Ergebnis liefern. Ist so ähnlich wie zu jemanden zu sagen: “Sei doch endlich kreativ!” Wo ist der Ausweg? Ich versuche es mit einem Vergleich zu sagen. In manchen Kulturen wird das Versagen eines Schülers bei einer Aufgabe dem Lehrer und dem Schüler angelastet. Beide verlieren ihr Gesicht. Diese Sichtweise ist im Westen schon in Schulen wenig verbreitet und erst recht rar, wenn man die Substitutionen Lehrer – Vorgesetzter und Schüler – Mitarbeiter durchführt. Trotzdem glaube ich daran, dass das ein erster Schritt aus der Kompentenzpatsche wäre. Wenn der Misserfolg des Mitarbeiters auch am Manager seine Spuren hinterlässt, hätten wir ein Mittel gegen Option 4 gefunden. Option 1 ist übrigens trivial zu beheben: Besetzt eure Führungspositionen mit ambitionierten, kompetenten Menschen – und schaut darauf, dass sie ambitioniert bleiben.

Blieben noch Option 2 und 3. Sch2 lässt sich relativ einfach abhandeln. Bei fast jeder Tätigkeit besteht ein Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der ich sie ausführe und der Qualität des Ergebnisses. Für Geschwindigkeit gegen unendlich fällt die Qualität unweigerlich gegen null. Solange sie eine Qualität fordern, die in der Nähe der Maximalqualität liegt, diese Qualitätsanforderung verständlich kommuniziert wurde und ihre Mitarbeiter einigermaßen an das glauben, was sie tun, brauchen sie sich um Sch2 nicht groß zu kümmern. Erst wenn Mitarbeiter nicht mehr an das glauben, was sie tun, bricht “Dienst nach Vorschrift” an und ein Taktieren und Ausloten beginnt, in dem der Mitarbeiter versucht herauszufinden, wie wenig er / sie tun kann, bevor es Sanktionen gibt. Da hilft manchmal nur mehr Belegschaft tauschen und mit neuer Kultur quasi von vorne beginnen. “Remotivierungsprogramme” sind heikel und führen oft nicht zum Ziel.

Option 3 – nicht abgestimmte Ziele über die Hierarchie hinweg – ist hingegen eine schwer zu knackende Nuss. Was macht man mit einem an sich kompetenten Manager der aber etwas andere Vorstellungen hat, wie die Firma laufen soll? Ich denke weit genug oben in der Pyramide wird es wieder einfacher – dort zählt ausschließlich der kommerzielle Erfolg. EBITDA, shareholder value oder wie immer man es nennen mag, u.U. erweitert um eine zeitliche Komponente im Sinne von RoI. Etwas überspitzt könnte man sagen, es ist egal ob man Gummibärchen, Finanzdienstleistungen oder Waffenproduktion (sorry – defense systems) managed, solange die Zahlen der letzten drei Jahre tief schwarz sind, ist alles gut. Je näher man dem operativen Fußvolk kommt, desto schwieriger wird es, weil die Ziele spezifischer werden müssen und die Anzahl der möglichen Wege enorm ansteigt. Ethische Werte gibt es wohl auf jeder Ebene, die Auswirkungen sind aber anschaulicher und damit bisweilen auch grauslicher, wenn man in der ersten Linie steht. Das kann schon zu einem gewissen mismatch führen. Habe ich einen Lösungsvorschlag ohne stretch targets? Leider nein oder zumindest nichts, was in das restliche System passen würde. Brauchen wir sie dann doch? Diese Frage hat enorme Reichweite zumal man sie auch umformulieren kann: Kann man in einer Führungshierarchie die Wertevorstellungen der Geführten durch herausfordernde Zielsetzung beeinflussen? Ganz ehrlich, ich hoffe die Antwort ist nein, andernfalls wären professionell geführte Firmen riesige Brainwash-Einrichtungen.

Ich habe jetzt lang und breit argumentiert, warum die vermeintlichen benefits von stretch targets entweder gar nicht existieren oder mit anderen Methoden mindestens so gut zu erreichen sind. Mag schon sein, könnte man einwenden, aber nur dass man es anders machen kann, heißt ja noch lange nicht, dass man es anders machen soll oder gar muss. Jedes Mittel ist recht, solange es nützt. Stimmt schon, nur kommt es darauf an, wie man die Nützlichkeit genau bewertet. Da kommen die oben erwähnten KPIs wieder ins Spiel. Auch McKinsey erwähnt in diesen Zusammenhang gaming als eine mögliche unerwünschte Folge. Damit ist das Hintricksen der Zahlen gemeint, also Aktionen, die im größeren Zusammenhang offensichtlich sinnlos bis schädlich sind, die KPIs, die zur Bewertung herangezogen werden, jedoch positiv beeinflussen. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrungswelt: Eine Softwarefirma möchte die Behebung von eingemeldeten Kundenmängeln beschleunigen und setzt daher ein (stretch) target auf den KPI issues resolved per software developer per month. Clever, oder? Was das Management nicht verstanden hat ist, dass einerseits Softwareentwickler auch clever sind und rechnen können und andererseits die Kunden oft vor dem Mangel ein unexpected behaviour einmelden – das dann potentiell von den gleichen Softwareentwicklern bewertet wird, die später auch die issues beheben. Also nicht exakt derselben Person aber demselben Pool. Was liegt also näher als ein und denselben Fehler in ein Problem in der Datenbankanbindung, eines in der GUI und eines in der Middleware aufzuteilen? Technisch gesehen muss man wohl alle drei Komponenten angreifen, auch wenn manche Anpassungen trivial sind. Ich würde vermuten, dass – in Spieltheorie gedacht – dafür kein Nash-Equilibrium existiert sondern die Anzahl der issues gegen unendlich läuft. In der Praxis ist eine echte Divergenz ausgeblieben – trotzdem stieg die Anzahl der bestätigten issues massiv an. Interessanter Weise konnte die Behebung der issues mit dem Anstieg erstklassig mithalten… De facto hat das Management nur den overhead erhöht und damit die Effektivität der Organisation etwas gesenkt. Mission not acomplished.

Was ich sagen will ist, dass es in der Praxis unendlich schwierig ist eine “mach es richtig und gut”-Einstellung auf ein Set von KPI-targets abzubilden, egal ob gestretched oder nicht. McKinsey mag es gaming nennen aber war nicht gerade das der Kern der Idee? Optimiere deine KPIs und sei kreativ dabei? Hat irgendjemand vergessen dazu zu sagen, in welcher Art man über den Tellerrand hinaus denken darf und was böses gaming ist? Der Übergang ist meines Erachtens unklar.

Der Artikel wird schon zu lange, ich komme zur bottom line. Liebe Manager, hebt euch stretch goals für die auf, die ihr nicht leiden könnt, die ihr loswerden wollt, für Geschäftsbereiche die ihr abschaffen möchtet. Wenn ihr wirklich ein level-up anstrebt, beginnt euch die Köpfe über die Motivationsquellen, das Qualitätsverständnis und die Möglichkeiten eurer Mitarbeiter zu zerbrechen. Wenn ihr es richtig macht, strecken sie sich freiwillig und zwar genau in die Richtung, wo es am meisten bringt.

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