Ich hab die Ilias gelesen!
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Ich hab die Ilias gelesen!

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Vor einigen Monaten hatte ich wieder einmal so einen “Ich will meine Allgemeinbildung verbessern!”-Anfall. Diesmal trieb es mich in die alte Literatur. Wenn schon alt, dann richtig, dachte ich mir. Das verfügbare Schrifttum wird übersichtlich, wenn man mehr als 2500 Jahre nach hinten blickt. Da ich den Text ja wirklich im engeren Sinn lesen wollte, schieden mehr oder weniger fragmentarisch erhaltene Tontäfelchen mit Keilschrift und Hieroglyphen auf Obelisken gleich im Vorfeld aus. Übersetzungen in mir zugängliche Sprachen gibt es ja vielleicht noch, der Inhalt ist nach heutigem Dafürhalten aber alles andere als eine Geschichte: Gesetzestexte, Genealogien, Steuertabellen, vielleicht mal eine Lobeshymne auf einen Herrscher oder die Aufzählung von steuerpflichtigen Gütern. Da muss schon ein Text mit mehr Handlung her. Bhagavad Gita wäre eine Option. Wahrscheinlich vor etwas mehr als 2500 Jahren in der jetzt erhaltenen Form entstanden, wird dort erzählt, was Vishnu in seiner irdischen Erscheinungsform Krishna seinem “Schüler” Arunja alles beibringt. Das hatte ich aber schon mal in meiner Studienzeit versucht – und war damit nicht wirklich voran gekommen.

Einen anderen alten Text kennen wir fast alle, zumindest bruchstückhaft. Ich sag nur “Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” – Buch Genesis 1,1. Auf die Frage wer den Pentateuch verfasst hat und wie alt er ist, bekommt man unterschiedliche Antworten, je nachdem, wen man fragt. Judentum und soweit ich verstanden habe habe auch Christentum sehen das Copyright klar bei Moses himself. Oder eigentlich nicht, weil er hat den Text ja von Gott empfangen. Ich hoffe die beiden haben das mit den Verwertungsrechten klar geregelt. In diesem Denkschema ist der Text etwa 6000 Jahre alt – in etwa so alt wie die Schöpfung selbst. Fragt man Personen, die eine historisch-wissenschaftliche Sichtweise über die religiöse stellen, klingt die Antwort weniger beeindruckend: 2500 bis 3000 Jahre alt, ziemlich sicher kein einzelner Autor sondern durch das langsame Zusammenwachsen unterschiedlichster Quellen entstanden. Und wie steht es mit dem Inhalt? Die spannenderen Teile kennen die meisten von uns, zumindest in nacherzählter und vorverdauter Form. Schöpfungsgeschichte, etwas Patriachatsuntermauerung (das mit der Rippe und Eva, ihr wisst schon), Paradies, Sündenfall, Kain und Abel, erster Totschlag im Affekt. Später Großbauprojekte (ähnlich Burj Khalifa, jedoch rein als Turm angelegt), Sodom und Gomorrha. Ja, das hat Potential. Die Handlung dreht und wendet sich manchmal unerwartet aber das ist bei Fantasyliteratur ja auch nicht anders. Ich entschied mich dann aber doch dagegen. Wie gesagt, wir sind alle gespoilert und kennen die interessanten Passagen inklusive deren Ausgang schon. Und es hat einen Grund, warum die weniger bekannten Teile weniger bekannt sind, z.B. die Völkertafel.

Ja, und dann kam mir Homer in die Quer. Spätestens seit den Simpsons kennt ja praktisch jeder einen Homer – wenn auch mit verrutschter Betonung. Aber ich meine ja offensichtlich den alten. Und so kam die Ilias ins Spiel. Verfasst vor etwa 2700 bis 2800 Jahren liegt sie zeitlich definitiv im Zielkorridor. Handlung? Massig: Eine Fusion aus historisch Realem und Göttergeschichten, gewürzt mit großen Gefühlen. Heutzutage würde Disney oder Warner Bros einen Blockbuster draus machen. Es war also gesetzt: Dies Ilias wird gelesen, vom ersten bis zum letzten Vers.

Da ich dem Altgriechischen nicht mächtig bin, musste ich zu einer Übersetzung greifen. Herr Voß hat freundlicherweise die Ilias höchst kunstfertig ins Deutsche übertragen. Leider war er so kunstfertig, dass er das originale Versmaß auch in der Übersetzung angewendet hat. Klingt nett, nur leider bedeutet “Versmaß” nicht, dass es sich reimt oder so. Der Hexameter (alle Ovid-Schul-geschädigten fühlen jetzt ein kalten Schauer über den Rücken laufen – ja, das geht nie mehr weg…) hat nichts mit ähnlichen Endsilben zu tun, da geht es um kurze und lange Silben und Zäsuren, also ganz kleine Pausen. Für Altgriechisch mag das ja ganz gut für erzählende Dichtung passen. Das Problem ist nur, dass Deutsch in Sachen Silbenlänge und Akzentuierung gänzlich anderes funktioniert als Altgriechisch. Ich kann wirklich nicht bewerten, ob sich die Ilias im Original “flüssig” liest oder nicht. Deutscher Hexameter tut es ganz sicher nicht. Hier eine kleine Leseprobe. Wir sind in den einleitenden Worten, wo erklärt wird, was bei den Achaiern gerade so abgeht:

Atreus Söhn und ihr andern, ihr hellumschienten Achaier,

Euch verleihn die Götter, olympischer Höhen Bewohner,

Priamos’ Stadt zu vertilgen und wohl nach Hause zu kehren;

Doch mir gebt die Tochter zurück und empfahet die Lösung,

Ehrfurchtsvoll vor Zeus’ ferntreffendem Sohn Apollon.

Ilias, 1. Gesang, 17ff

Alles klar? Einem Apollo-Priester soll man die Tochter nicht stehlen. Ist wohl so eine Art Protektoratsding. Apollo gibt den Achaiern jedenfalls Saures dafür. Weit vor der Handlung der Ilias hat ein anderer Frauenraub (Paris, die schöne Helena und so) den trojanischen Krieg ausgelöst. Wenn man gerade so gemütlich beim Kriegführen ist, kann man einen aufsässigen Gott gar nicht gebrauchen. Aber Troja muss schon mal zerstört werden, nicht nur wegen einer Helenaentführung sondern weil olympische Götter da auch ein gewisses Interesse daran haben. Das aus dem zitierten Text herauszulesen ist aber nicht nur wegen des Versmaßes schwierig (empfahet – armes, dem Versmaß geopfertes Verb) sondern auch, weil Homer davon ausgeht, dass der Leser bzw. Zuhörer die anderen Geschichten, die so im Umlauf sind, auch kennt. Ist so ähnlich wie die “vingardium leviosa-Szene” in Das Lego Batman Movie – da geht man auch davon aus, dass die Zuhörer genug Harry Potter Wissen dabei haben um die Wirkung des Zauberspruchs auf Batman zu verstehen. 700 BCE waren halt Paris, Helena, Chryses & Chryseïs, Achilleus und Agamemnon die Stars.

Jetzt zum Inhalt. Gleich vorweg der Super-Spoiler: Wer die Geschichte mit dem trojanischen Pferd lesen will, braucht sich nicht durch die Ilias zu kämpfen – das Ding kommt gar nicht vor. Durch die Ilias kämpfen kann aber gerne doppelsinnig verstanden werden, gekämpft wird nämlich genug. Lanzen in Leiber gebohrt, Gliedmaßen von Rümpfen getrennt, Schädel gespalten, ganze Körper von Steinen zermalmt. Mitten drinnen hab ich schon befürchtet, dass nicht genug Helden bis zum Ende des Epos übrig bleiben um noch eine schöne Schlussszene hin zu bekommen. (Pro-Tip: Die Auftritte von Ares haben es besonders in sich.) Aber nicht nur die kriegskonforme Schlachtung von Helden und Fußvolk wird detailliert beschrieben, sondern auch Leichenschändung – heutzutage doch eher ein Tabuthema – bekam ausreichend Platz. Achileus arbeitet sich ganze 12 Tage an Hektors Leiche ab. Fans von Blood and Gore Stories kommen sicher auf ihre Rechnung.

Man darf sich aber nicht von der Gewalt blenden lassen. Es ist ausreichend Platz für Emotionen. Große Gefühle. Zorn ist wohl die Triebfeder für die ganze Geschichte, aber auch Liebe, verletzter Stolz, Eifersucht und Loyalität kommen nicht zu kurz. Was sage ich – diese Emotionen werden zelebriert. An manchen Stellen sammeln sich schon Pathos-Lacken an den Versenden an. Menschen und Götter unterscheiden sich da erstaunlich wenig. Sie lieben und hassen, schmeicheln und beleidigen genauso wie Menschen. Göttliche Handlungsfreiheit bietet mehr Spielraum für tatkräftige Umsetzung der Gefühle, das schon. Das Gefühlsspektrum unterscheidet sich aber keinen Deut vom gemeinen, sterblichen Volk. Anmerkung am Rande: Bei der griechischen Schöpfungsgeschichte auch kein Wunder – Zeus ist der Enkel von Uranos, der Zeus’ Vater Kronos durch Inzest mit seiner Mutter gezeugt hat. Kronos kastriert seinen Vater Uranos auf die Anstiftung seiner Mutter hin, und Kronos wird von Zeus im Titanenkampf gestürzt, freundlicher weise aber nicht verstümmelt sondern nur zusammen mit seiner Frau verbannt. Die alten Griechen standen auf starke Geschichten und der Olympbevölkerung war kein Gefühl fremd.

In der Ilias gibt es aber auch lahme Passagen. Zumindest aus meiner heutigen Sichtweise. Was ich an diesen Teilen schon interessant fand, war die Parallele mit den “weniger bekannten” Teilen des Pentateuchs. Ich meine Aufzählungen. Von Städten, von Helden, von Völkern, von Schiffen. Ja, der Schiffskatalog zählt penibel 29 Schiffsverbände auf, jeden genau mit Anzahl der Schiffe, Herkunft, Anführer und meistens auch mit etwas Backstory. Nicht dass all diese Details irgendeinen Einfluss auf die weitere Handlung gehabt hätten. Der Heldenkatalog der Ilias und die Völkertafel des Buch Genesis beschreiben zwar faktisch vollkommen unterschiedliche Bereiche, sind sich strukturell aber enorm ähnlich. Was solche telefonbuchartigen Einschübe in einem Werk zu suchen haben, das halb zwischen Fiktion und Realität steht, erschließt sich mir nicht. War damals aber irgendwie chic.

Was sagt mir die Ilias abgesehen von all diesen inhaltlichen Juwelchen? Ich bin ernüchtert. Mir war auch schon vorher klar, dass die Menschheit gerne Krieg führt und sich immer wieder mal an Gewalt berauscht. All das aber im Kontext eines Heldenepos zu lesen, setzt es in einen anderen Kontext. Die Gewaltexzesse sind nicht ein Durchbrechen des Animalischen sondern eine Art Ausdrucksform von Göttern, Halbgöttern und sterblichen Helden. Dass Frauen gestohlen, versklavt und geheiratet werden als seinen sie Gegenstände, verwundert dann auch nicht weiter. Das Recht des Stärkeren ist absolut. Wer siegt, der nimmt. Zu nehmen, wenn du dazu im Stande bist, ist normal. Das war die Quintessenz, die bei mir ankam. Ich bin überzeugt, dass diese Grundeinstellung damals keine Fiktion war, sondern dem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens entsprach. Gleichzeitig erschuf dieselbe Kultur monumentale Theaterbauten, die so ausgerichtet wurden, dass die Bühne im Hintergrund von schneebedeckten Berggipfeln umrahmt wurde – wie geht das zusammen?

Selge Amfitiyatrosu, Türkei. Der Fairness halber muss man dazu sagen, dass die Gründung dieser Siedlung zwar in die Zeit des trojanischen Kriegs fällt, das Theater aber erst ca. 1000 Jahre nach dem Fall von Troja erbaut wurde – da ging es sicher schon viel zivilisierter zu…

Je mehr ich über die Menschheit lerne, desto weniger verstehe ich sie.

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